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Alkoholfrei leben: Diese 5 Dinge haben sich verschlechtert

Jep, es gibt 1001 Gründe, warum es die beste Entscheidung meines Lebens war, ein Leben ohne Alkohol zu führen. Doch romantisch ist die Abstinenz nicht immer. Hier 5 Dinge, die sich verschlechtert haben, nachdem ich aufgehört habe, Alkohol zu trinken.



1. Ich brauche mehr Überwindung, um an eine Veranstaltung zu gehen

  • Warum? Der Motivator Nummer 1 – trinken! – fällt weg. Wie sehr habe ich mich immer auf das erste Glas gefreut (und die paar, die noch folgen würden).

  • Jetzt, wenn ich weiss, dass ich eine Veranstaltung ohne Alkohol erleben werden – also etwa eine Vernissage in einer Galerie (da wird traditionell gerne und viel getrunken), ein Empfang irgendwo, auch ein Umtrunk im Büro – muss ich mir überlegen: Freue ich mich auf die Leute, die ich treffen werde? Habe ich Bock auf die Atmosphäre, auf die Gespräche, auf das Essen? Werde ich den ganzen Abend am Wasserglas hängen oder kann ich zwischendurch auch mal einen Tee oder einen alkoholfreien Drink bekommen?

  • Ohne Alkohol muss ich mir überlegen: Wie lange werde ich es aushalten, bevor es mir zu laut, zu eng, zu chaotisch wird (mit steigendem Pegel der anderen)?

Fazit: Mein «Ja!» zu einer Veranstaltung ist zögerlicher, weil mehr Faktoren eine Rolle spielen, die zu meiner Entscheidung beitragen als früher, als es vor allem ein Faktor war.


2. Meine Sinne sind geschärfter

  • Klingt erst einmal gut? Ist es auch. Aber wenn man sensibel ist, kann das auch ganz schön anstrengend werden (ein Grund, warum ich trank, war darum auch der, mich zu betäuben, um nicht mehr immer alles mitzubekommen).

  • Ohne Alkohol bekomme ich gefühlt alles mit. Vor allem die unangenehmen Dinge kann ich nicht mehr ausblenden. Ich bin sensibel, und das gefiel mir nie besonders (auch heute habe ich noch Mühe damit, das zu akzeptieren). Sensibel sein ist energieraubend. Wenn ich alles höre, was andere sagen etwa, einfach nicht weghören kann, wenn am Nebentisch jemand über Beziehungsprobleme oder den letzten Einkauf redet. Wenn ich immer spüre, wenn mir jemand zu nahekommt, beim Anstehen an der Kasse zum Beispiel. Oder wenn ich rieche, wenn jemand eine üble Fahne oder ein sehr starkes Parfüm hat.

  • Auch sehr anstrengend: Ich spüre oft, was andere spüren, und das macht müde.

Fazit: Die betäubende Wirkung des Alkohols, die den alltäglichen, endlosen Sinneseindrücken die Wucht zu nehmen vermochte, fehl mir manchmal.


3. Ich weiss manchmal nicht, was ich trinken soll

  • Jahrelang habe ich mich darin geübt, einen Drink zu bestellen, und ich war verdammt gut darin: Bier, Prosecco, Wein, etc. – wenn ich an der Bar stand, wusste ich, in welche Richtung es gehen würde.

  • Heute plagt mich oft Ratlosigkeit, wenn ich aus bin: Was soll ich trinken, wenn ich Wasser gerade öde finde? Süssgetränke zu süss und zu viele Tees irgendwann zu warm?

Fazit: Die Alternativen, die ich heute habe? Schienen mir immer langweilig und scheinen sie mir manchmal heute noch.


4. Ich sehe überall nur noch Alkohol

  • Vielleicht liegt es auch an Punkt 2 – dass ich schärfere Sinne habe jetzt – aber ich sehe überall nur noch trinkende Menschen.

  • In Filmen, wenn ich durch eine Stadt schlendere… überall steht Alkohol rum oder es wird an ihm genippt. Meine Blicke werden wie magisch angezogen von sich hebenden Gläsern und halbvollen Flaschen, egal, ob in der Realität oder fiktiv.

  • Ist es, weil ich den Alkohol vermisse? Ich vermisse den Alkohol nicht, aber vermutlich gibt es da doch noch einen Automatismus in meinem Gehirn, der mich abchecken lässt, wo das nächste Glas (für mich bereit) steht.

Fazit: Es nervt mich, dass Alkohol so viel meiner Aufmerksamkeit auf sich zieht, auch wenn ich unfassbar froh bin, dass er mein Verlangen nicht triggert.


5. Ich fühle mich als Spassbremse

  • Oooh wie oft habe ich schon sagen hören: Du musst dich nicht als Spassbremse fühlen, ist doch deine Entscheidung, nichts mehr zu trinken, natürlich haben wir auch Party, wenn du nichts trinkst!

  • Meine Realität ist aber, dass ich quasi mein ganzes Leben lang Menschen, die kategorisch auf Alkohol verzichten, für die absoluten Langweilerinnen und Langweiler hielt. Von dieser Meinung konnte ich mich zwar kognitiv verabschieden – vom Verstand her also weiss ich, dass es Bullshit ist, so zu denken. Die Überzeugung, dass man aber irgendwie doch vielleicht anti-hedonistisch rüberkommt, asketisch oder streng mit sich, dem Leben und anderen, davor habe ich noch immer Schiss.

Fazit: Ich habe mich jahrelang über das Image der Lebedame definiert. Dass das jetzt weg ist und mein Image ein um 180 Grad anderes sein soll, damit komm ich oft echt noch nicht ganz klar.


«Maria, warum schreibst du über die negativen Dinge, nimmt das anderen nicht die Motivation, mit dem Trinken aufzuhören?»


Nun: Tatsächlich hat jeder dieser Nachteile auch eine positive Kehrseite, zu denen ich gleich komme. Aber alkoholfrei werden bedeutet eben nicht, einfach den Alkohol wegzulassen. Wer diese eine Sache tut – den Alkohol weglassen – setzt damit viele Veränderungen in Gang, die auch, meist vorübergehend, unangenehm sein können.


Doch genau das macht die Alkoholfreiheit nicht nur zu der besten Entscheidung meines Lebens, sondern auch zum spannendsten Experiment: Die Veränderungen, die das Weglassen des Alkohols bei mir in Gang gesetzt hat, bringen mich mehr als jeder andere Versuch, den ich je unternommen habe, zu mir selbst. Ein Leben ohne Alkohol ist DIE Lebensschule.


Jeden Tag lerne ich mich ein Stückchen besser kennen. Ist das immer angenehm? Mitnichten!


Ich sehe es als Geschenk, mich mit mir selbst konfrontieren zu dürfen. Das war nicht immer so: Alkohol verhindert ziemlich zuverlässig, genau hinschauen zu müssen. Heute verändere mich, das ist manchmal (okay, oft) Arbeit, doch ich weiss, dass jede Veränderung nachhaltig gut für mich und meine Umwelt ist. Ich lerne jeden Tag mehr, Unangenehmes auszuhalten. Das macht mich widerstandsfähig. Und das wiederum macht mich selbstbewusst.


Was sind denn die positiven Kehrseiten der Verschlechterungen?


Seit ich Sinneseindrücke nicht mehr mit Alkohol dämpfe, erkenne ich meine wahren Bedürfnisse viel schneller und handle entsprechend. Darum gehe ich weniger auf Veranstaltungen, die mich unterm Strich vor allem ermüden. Stattdessen tue ich Dinge, die mir wirklich gut tun, die mich tatsächlich nähren.


Wie viel ich jetzt mitbekomme, seit ich meine Sinne nicht mehr betäube! Nur: Die Toleranzgrenze ist halt zu einem Zeitpunkt erreicht, an dem ich früher noch stundenlang weitermachte (was nur klappte, indem ich meine Bedürfnisse ignorierte). Wenn mir jetzt etwas zu viel wird, ändere ich die Situation, nicht mein Bewusstsein durch Alkohol.


Und wenn ich heute keinen Bock auf Wasser habe? Dann trinke ich trotzdem Wasser und lache darüber, wie gross die Vorteile sind, die mich erwarten, wenn ich diesen im Verhältnis so verschwindend kleinen Nachteil in Kauf nehme.


Die Sache mit der Spassbremse habe ich noch nicht ganz gelöst.





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