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Alkohol und sexuelle Übergriffe: Wie passt das zusammen?

Auf Instagram veröffentlichte ich einen Beitrag, der einige Fragen aufwarf. Die wichtigste: Ist Alkohol Mitschuld an Übergriffe auf Frauen? Im Folgenden ein paar Gedanken dazu.


Die Reaktionen auf diesem Beitrag liessen nicht lange auf sich warten. Die Community stellte mir zurecht Fragen und konfrontierte mich mit Meinungen:


  • Gibst du etwa dem Alkohol Schuld, wenn Männer übergriffig sind?

  • Arschloch bleibt Arschloch, mit oder ohne Alkohol

  • Die Verantwortung liegt beim Täter, nicht beim Alkohol

  • Wenn du als Frau betrunken bist, passieren dir solche Sachen

  • Wenn du nicht respektvoll mit dir selbst umgehst, sind es andere auch nicht


Die meisten Übergriffe und Grenzverletzungen durch Männer erfuhr ich, als ich und/oder der andere betrunken war. Darum kann und will ich den Alkohol aus diesen unangenehmen nbis hin zu gefährlichen Situationen nicht einfach rausschneiden. Ich möchte ihm eine Rolle zuschreiben, die über seine Rolle als allgegenwärtiges «Genussmittel» hinausgeht. Er schädigt nicht nur den Trinkenden/die Trinkende. Er lässt auch den Trinkenden zur Gefahr für andere werden.


Gleichzeitig wissen wir, dass der Täter der Täter ist und das Opfer nie die Schuld trägt. Das Opfer trägt niemals die Schuld.


Welche Rolle übernimmt also der Alkohol in Fällen von Übergriffen, Grenzüberschreitungen, sexualisierter Gewalt, Gewalt an Frauen?


Von den gewaltbetroffenen Frauen, die sich an eine deutsche Beratungsstelle wenden, geben 48 Prozent einen problematischen Alkoholkonsum in der Paarbeziehung an. In neun von zehn Fällen ist es der Mann, der trinkt. In 25 Prozent der Gewaltsituationen hat ein Beziehungspartner zum Zeitpunkt des Vorfalls getrunken. (Quelle: Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V.)


Bei gut einem Drittel der Gewalttaten, die der Polizei bekannt werden, ist Alkohol im Spiel. Gewalt umfasst körperliche, sexualisierte und psychische Gewalt. Sie reicht von Beschimpfungen und Demütigungen, sexuellen Übergriffen bis zur Körperverletzung mit Todesfolge. Und sie passiert oft in Partnerbeziehungen und Familien. (Quelle: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.)


Alkohol und sexuelle Übergriffe: Wie passt das zusammen?


Solange die Welt für Frauen noch kein sicherer Ort ist, erlaube ich mir die Frage, was Alkohol und sein Konsum dazu beiträgt, dass dies (immer noch) so ist. Eine Frage, die ich im aktuellen Diskurs vermisse.


Passt es nicht zu unserer woken Gesellschaft, die die Verantwortung für eine Tat zu 100% beim Täter sieht, Alkoholkonsum als eine zusätzliche Gefährdung für Frauen mit einzuberechnen?

Auch wenn jemand alkoholisiert ist, ist immer noch er derjenige, der die Grenze überschreitet, der die Tat begeht, der andere verletzt. Was aber, wenn der Alkohol der Auslöser war, dass die Grenze überschritten wurde oder der Alkohol zumindest diesen Schritt begünstigte – weil der Alkohol Kontrollverlust verursachte, die Hemmungen auslöschte oder angestaute Wut Bahn brach?


Es macht den, der es getan hat, immer noch zu dem, der es getan hat. Es macht den Handelnden immer noch zum Handelnden. Es macht den Täter immer noch zum Täter. Doch: Was, wenn die Grenzüberschreitung/die Tat ohne Alkohol verhinderbar gewesen wäre? Was, wenn Frauen seltener negative Erfahrungen machen müssten, würde unsere Gesellschaft weniger Alkohol trinken? Ein Schwips, ein Suff oder ein Vollrausch soll keinen Täter/keine Täterin entlasten. Doch genauso, wie ich es gut finde, dass es Frauenparkplätze und Pfefferspray gibt - obschon sie Symptome bekämpfen und das Problem nicht bei seiner Entstehung angehen - fände ich es gut, wenn mehr Massnahmen getroffen werden, die Frauen JETZT schützen. Ich will nicht warten, bis alle ihre Arbeit getan haben unsere Vergewaltigungskultur der Vergangenheit angehört.


Übrigens: Schon seit Jahren diskutiert man über ein Alkoholverbot in Fussballstadien. Alkoholisierte Fans sind gewaltbereiter als nüchterne. Meist männliche Hooligans schlagen dann anderen meist männlichen Hooligans weniger die Köpfe ein oder zerstören weniger öffentliches Eigentum. In manchen Ligen, in manchen Spielen gilt das Verbot bereits. Ja, ein Verbot von Alkohol in Stadien ist einfacher umzusetzen als ein Verbot von Alkohol dort, wo Alkohol eine Rolle spielen kann, wenn Übergriffe auf Frauen passieren: potentiell überall.


Vielleicht ist es gerade zu viel, gleichzeitig das Patriarchat UND unseren Umgang mit Alkohol in Frage zu stellen. One thing at a time, so funktioniert das schliesslich auch mit der Abstinenz.

Auch ich als Trinkende sehe mich als Opfer und Täterin gleichzeitig


Ich für mich kann nicht ausmachen, was zuerst da war:

  • Habe ich getrunken, um Übergriffe von Männern, wie ich sie zuhauf auf Partys und im Alltag erlebt habe, zu ertragen? Oder habe ich Übergriffe und Grenzüberschreitungen weniger ernst genommen oder erfolgreich ausgeblendet, wenn ich betrunken war?

  • Ich fühlte mich hilflos, wenn ich bedrängt wurde – immer. Habe ich getrunken, um diese Hilflosigkeit zu ertragen oder fühlte ich mich hilf- und wehrlos, weil ich betrunken war?

Ich weiss es nicht. Spielt es eine Rolle, sich diese Fragen zu stellen? Wäre es nicht einfacher, die Rollen klar verteilt zu lassen: Hier der Täter, da das Opfer, dazwischen kaum Raum für die Diskussion über Substanzen, Umstände, Trinkkultur? Ich weiss es nicht. Vermutlich geht es mir bei der ganzen Fragerei auch um den Wunsch nach Verstehen, wie Alkohol patriarchale Strukturen begünstigt.


Tatsache ist, dass alkoholisierte Personen – vor allem jene, die sich regelmässig in solchen Zuständen wiederfinden, so wie ich früher – sich ihres Verhaltens oft schämen. Mir war es schrecklich peinlich, wenn ich mich betrunken nicht unter Kontrolle hatte, Dinge tat, die ich im nüchternen Zustand nicht tun würde oder wenn ich nicht mehr alles wusste, was ich tat, weil ich ein Blackout hatte. Mir war es schrecklich peinlich, wenn ich begrapscht, ungewollt geküsst, bedrängt oder unter Vorwänden in eine fremde Wohnung gelockt wurde.


Ich fragte mich in den Tagen danach in Dauerschleife:


Warum habe ich mich nicht deutlicher gewehrt? Habe ich mich überhaupt gewehrt? Habe ich es gar provoziert?

Diese Scham hat begünstigt, dass ich alles Übergriffige, jede Grenzüberschreitung (und von denen gab es übrigens noch einige, über die ich noch nicht bereit bin zu schreiben), nicht aktiv angehen wollte. Im Gegenteil: Ich sah die Verantwortung zu 100% bei mir. Auch meine früheren Partner sahen die Verantwortung bei mir – mehr als einmal erlebte ich, dass sie wütend wurden sowie misstrauisch oder eifersüchtig, wenn sie mitbekamen oder ich ihnen erzählte, was mir passierte.


Das Opfer trägt niemals die Schuld zählte für mich in diesen Momenten nicht. Dieser Grundsatz gilt nicht für Frauen, die zu viel Alkohol getrunken haben.


Die Konsequenz: Ich akzeptierte die Übergriffe. Verdrängte sie, auch die damit einhergehende Scham. Sie waren der Preis, den ich für mein Fehlverhalten zu zahlen hatte, so war ich überzeugt. Ich fühlte mich nicht berechtigt dazu, anders darüber zu denken, mich zu wehren oder nicht zu dulden, dass man mich dafür verurteilte, wenn mir etwas Ungewolltes angetan wurde. Denn ich war ja betrunken, und wer betrunken ist, hat als Konsequenz nicht die Kontrolle darüber, was mit einem passiert.


Und jetzt?


Erstens: Gewalt an Frauen findet auch ohne Alkoholeinfluss stattfindet. Sehr, sehr oft.


Zweitens: Wenn Alkohol weniger normalisiert würde in unserer Gesellschaft, würden wir es vermutlich als weniger «normal» hinnehmen, wenn unter Alkoholeinfluss Gewalt an Frauen, sexualisierte Übergriffe und Grenzüberschreitungen stattfinden.







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